Kinder / Jugendliche

Kinder unter Stress: «Bleib locker»-Kurs in Berlin

Berlin (dpa) - Auch Kinder im Grundschulalter sind heute immer gestresster. «Die Reizüberflutung ist in unserer Gesellschaft gerade für Kinder dramatisch um ein Vielfaches gestiegen», sagt der Hamburger Psychologe Michael Thiel. Gehirn und Seele würden durch Medien, Computerspiele, Konflikte in den Familien und Überforderungen in der Schule unter Druck gesetzt wie noch nie. Der bedrohlichen Entwicklung begegnet in Berlin die Techniker Krankenkasse nach eigenen Angaben mit einem in Deutschland noch sehr seltenen «Anti- Stress-Kurs» für Kinder. «Bleib locker» heißt es für gestresste 8- bis 10-Jährige. Zwölf Kinder toben und lärmen im 14. Stock des Eden-Hochhauses in der West-City von Berlin. Sie üben Rollenspiele, schlüpfen in die Haut von Eltern, Lehrern. Sie streiten. Manchmal fließen Tränen. Die Emotionen können hochschlagen. Alles ist Kursleiter Wolfgang Schulz hier oben, wo der Großstadtlärm langsam abebbt und der Stress des Alltags Schritt für Schritt «mit Spaß statt Druck» ausgeblendet wird, schon begegnet. Die Palette der Stressfolgen auch für Kinder ist vielfältig: Aggressionen, Depressionen zeigen sich, typische psychosomatische Störungen wie Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Probleme sind nicht selten. Konkrete Zahlen über stressgeschädigte Kinder liegen nicht vor. Nach einer repräsentativen Befragung des Marburger Professors Arnold Lohaus, dessen Ideen eine Säule der Berliner Kurse sind, leiden etwa 72 Prozent der Kinder zwischen 8 und 10 Jahren einmal oder mehrmals in der Woche an Erschöpfungszuständen. Dagegen hilft neben den Rollenspielen eine spezielle Therapie der Muskelentspannung. «Bleib locker», das Motto umfasst auch die Körperarbeit. Im Zentrum des Konzepts steht aber der Gedanke, den Kindern zu einer mentalen Schutzhaut zu verhelfen, damit sie den Belastungen draußen mit gestärkter Konzentration widerstehen können. «Kinder im Grundschulalter müssen heute mehr denn je medienfreie Erholungsoasen bekommen», sagt der Hamburger Psychologe Thiel. Nach Beobachtung der Vorsitzenden des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychologie, Christa Schaff, aus dem baden- württembergischen Weil kommen immer mehr Kinder mit dem ständig steigenden Lärmpegel nicht mehr zurecht. «Diese Kinder ziehen sich dann zurück, wollen allein sein, fast bis zum Autismus.» Damit versuchten sie sich zu schützen vor den Folgen von zu viel Lärm, aber auch vor Stress durch Mobbing von Mitschülern. «Die Kinder müssen sich ständig behaupten, sich wehren. Manche sagen mir, sie müssten in eine Art täglichen Krieg ziehen.» Der Berliner Kursleiter Schulz hilft den Kindern, «mehr private Räume zu beanspruchen». Wer kein eigenes Zimmer für den Rückzug hat, kann lernen, «auf Phantasiereise» zu gehen. «Bitte nicht stören», müssen Kinder der Erwachsenenwelt räumlich und geistig deutlicher klar machen können. Die Eltern sind in Sitzungen vor den Kursen und bei der Bilanz nach den zwölfteiligen Kursen einbezogen. Die Techniker Krankenkasse (TK) hat sich für das Anti-Stress- Konzept entschieden, weil sie auf Vorbeugung setzt. «Das kann Kosten senken, bevor das Kind in den Brunnen fällt», sagt Gesundheitsberater Guido Grunenberg. Die Kinderkurse sind umsonst. Jedoch sind die Kurse kein Ersatz für eine Psychotherapie. In gut 20 Prozent der Fälle gibt der Kursleiter eine Therapie-Empfehlung. Der Dauerstress hat viele Kinder so erfasst, dass sie laut Schulz «nicht mehr gruppenfähig sind».

Quelle: Netdoktor.de vom 05.05.2004

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