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"Suizide im Netz angezettelt"

von Ingrid Müller
Suizid-Foren im Netz betreiben ein Spiel mit dem Tod. Die einen reizt der Tabubruch, für andere ist es tödlicher Ernst. Professionelle Hilfe? Fehlanzeige

Suizid-Foren im Web: Spiel mit dem Tod
Todeswünsche, Suizidpläne, Bezugsquellen für Waffen, Pillen, Gifte, letzte Gedanken, virtuelle Anschlagbretter für Abschiedsbriefe. Einer sucht "eine Partnerin für den gemeinsamen Abgang", ein anderer fragt nach einer "schmerzlosen Variante, die wie ein Unfall aussieht" - für die Versicherung. Auf der homepage das Schwarz-Weiß-Bild einer Frau, die übers Brückengeländer auf dem Weg nach unten ist. "Suizid-Foren im Internet können für psychisch labile Menschen gefährlich werden", warnt der Psychiater Patrick Bussfeld von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München auf einer Pressekonferenz. Mehr als 30 solcher Foren gebe es mittlerweile in Deutschland, schätzt Bussfeld, weltweit seien es sogar mehrere Tausend. Gefährlich, weil dahinter eine Subkultur steckt, der Austausch in den Foren im Verborgenen und abgeschirmt stattfindet, weil der Suizid verherrlicht wird und professionelle Hilfe Fehlanzeige ist. Gefährlich auch, weil es für manche nur ein Spaß ist - die Anleitung zum Suizid. Weil sie der Tabubruch reizt und sie keine Ahnung haben, dass es für andere tödlicher Ernst sein kann. "Mit dem Tod wird gespielt", kritisiert Ulrich Hegerl, Professor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München.

Ankündigung übers Web
In Deutschland beenden jährlich rund 12.000 Menschen ihr Leben selbst. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes tun es mehr Männer als Frauen, in den neuen Bundesländern mehr als in den alten. Suizid-Versuche wurden dagegen rund zehnmal so viele registriert. Und hier sind es mehr Frauen als Männer. Als besonders gefährdet gelten depressive, alkoholkranke, drogen- und medikamentenabhängige, alte und einsame Menschen, berichtet die Forschungsgruppe Suizidalität und Psychotherapie am Universitätsklinkum Hamburg Eppendorf.

Welche Rolle das Internet beim Suizid spielt, ist schwer zu sagen. Aber im Jahr 2000 wurden zumindest "zwölf Suizide im Internet angekündigt und angezettelt", weiß Bussfeld. Eine kleine Zahl zwar, aber "jeder Suizid ist einer zuviel", betont er. Wie der 24-jährige Norweger Daniel und Eva, 17, aus Österreich, die sich über das Internet zum gemeinsamen Freitod verabredet hatten.

Nachahmungs-Effekt
Es gibt keine genauen Zahlen, wer eigentlich die Nutzer der Suizid-Foren sind. Klar ist, dass das Internet nach wie ein Medium der Jüngeren ist. Wie eine Studie von ARD/ZDF-Online 2001 zeigte, sind die 14- bis 19-Jährigen am stärksten im Netz vertreten. Und junge Leute, die z.B. in einer Krise stecken oder unter psychiatrischen Erkrankungen leiden, sind vermutlich auch die häufigsten Nutzer der Suizid-Foren. Etwa 800 Suizidopfer in Deutschland sind jünger als 25.

Auch der Nachahmungs-Effekt sei nicht zu unterschätzen, erklärt der Psychologe David Althaus. "Die Gefahr ist im Internet besonders groß." Für manche habe die Anleitung zum Suizid Modellcharakter und bringe schließlich "das Fass zum Überlaufen." Eine rechtliche Handhabe, um gegen die Betreiber solcher Suizid-Foren vorzugehen, gibt es derzeit nicht. In Deutschland sei dies noch juristisches Neuland, sagt Hegerl. Die Server stehen in Rumänien oder Georgien, die Foren sind schwer zu finden. "Glücklicherweise", meint Bussfeld.

"Freitod nur in der Belletristik"
Einen Suizid zu verhindern ist schon in der Realität schwierig, im Internet ist es fast unmöglich. Auch deshalb, weil die meisten anonym im Web surfen, "nicknames" benutzen und nicht zu identifizieren sind. "Wir können zwar sagen, dass jemand Probleme hat", erklärt Bussfeld, "aber nicht, ob jemand suizidgefährdet ist."

Dennoch ist das Internet im Bereich der Psychiatrie wichtig geworden. Laut einer Umfrage unter 600 Patienten nutzen 40 Prozent regelmäßig professionelle Hilfsangebote, rund 23 Prozent gaben an, davon profitiert zu haben. Das Kompetenznetz Depression beispielsweise beschäftigt einen Facharzt, der die Diskussionsforen moderiert. Ist jemand nach Einschätzung von Experten tatsächlich suizidgefährdet, schicken sie Ratschläge per E-mail, stellen den Kontakt zu einem Arzt her oder versuchen, über die Polizei Kontakt mit den Betroffenen aufzunehmen. Hegerl fordert: "Diese Angebote müssen ausgebaut werden." Denn in 90 Prozent aller Fälle sei der Suizid überhaupt keine freie Entscheidung, sondern dahinter steckten ernsthafte psychiatrische Erkrankungen wie eine Sucht oder Depression. "Den Freitod", sagt Hegerl, "den gibt es nur in der Belletristik."

Quelle: Netdoktor.de vom 06.09.2004

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