Psycho News - Artikel

Internet und Suizidgefährdung

Berlin (naps/rh). "Natürlich hält das Internet Informationen bezüglich der Suizidprävention bereit", erklärte Prof. Dr. Armin Schmidtke, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, in einem Pressegespräch am Rande des DGPPN-Kongresses in Berlin. Er verwies aber auch auf Angebote, die besonders für labile Menschen Gefahren bergen. So werden Tabellen und Rangreihen über die effektivsten Suizidmethoden angeboten, Foren und Orte vermittelt, die der Suizidpartnersuche dienen.

Verabredung zum Doppelsuizid
"Hätte der Schriftsteller Heinrich von Kleist bereits die technischen Möglichkeiten gehabt, womöglich hätte er Henriette Vogel über das Internet gefunden", beschrieb Armin Schmidtke das heutige Ansteckungsphänomen. Ähnlich wie bei den "alten" Medien können direkte Imitationseffekte über das neue Medium erzeugt werden. Diskutiert wird, so Armin Schmidtke, "ob das Internet sogenannte 'Suizidcluster' fördern kann. Darunter versteht man eine Häufung von Suiziden oder Suizidversuchen oder beidem innerhalb eines kurzen Zeitraumes und in räumlicher Beziehung."
Zur Prüfung dieser Hypothese beobachtete Schmidtke und sein Würzburger Team für den Zeitraum eines Jahres das Archiv eines moderierten "Freitodforums". Dabei zeigen die Ergebnisse, "dass die Verteilung der etwa 3000 in Chatrooms zu findenden Postings mit der Suche nach Suizidpartnern nicht zufällig verteilt ist." Das Hauptproblem: die "Verabredungscluster" fungieren länderübergreifend. Als Spitze des Eisberges dieser Anbahnungen nannte Armin Schmidtke einen 25-jährigen Norweger, der über das Internet nach Gleichgesinnten fahndete. Im Februar 2002 sprang er gemeinsam mit einer 17-jährigen Österreicherin von einem Felsen in den Tod. Ein gemeinsamer Sprung Jugendlicher vom Dortmunder Fernsehturm wurde im letzten Moment von der Polizei verhindert. Ob bestimmte Personen bereits vorher an Suizid denken oder erst der Kontakt mit solchen Foren dies begünstigt, werde diskutiert, so Schmidtke. Sicher ist, bestimmte Inhalte und Antworten in den Chatrooms können Emotionen verstärken, Einstellungen verändern und Imitationseffekte auslösen. Zudem verdeutlichte Armin Schmidtke, wie problematisch das selbst für "Profis" sein kann: "Zwei meiner Mitarbeiter musste ich von dieser Aufgabe abziehen:
Sie waren nach zwei Wochen zu stark emotional betroffen." Das ist die belastende Seite. Doch gefährdet sind vor allem Jugendliche, "da sie in den Foren viel Modelle finden, mit denen sie sich leicht identifizieren können." Dazu zitierte Schmidtke einen Forenbetreiber: "Die Jugendlichen geraten in einem Sumpf, aus dem sie oft nicht wieder herauskommen." Besonderes Augenmerk sollte daher auf die Motive und Beiträge der Betreiber solcher Foren gelegt werden. Immerhin, einige Forenbetreiber platzieren von sich aus Verweise zu professionellen Hilfsangeboten, berichtete Schmidtke.

Auch präventive Wirkung möglich
Laut Prof. Schmidtke ist es aber problematisch, anhand von Einzelfällen generelle Aussagen über die Gefahr der Suizidforen zu treffen. Zudem ist in der bisherigen Berichterstattung über die Foren der Hinweis auf eine mögliche präventive Wirkung zu kurz gekommen: "Da Suizid noch immer ein gesellschaftliches Tabu darstellt, müssen Gefährdete, die sich im realen Leben persönlich offenbaren, mit Unverständnis und Stigmatisierung rechnen. Der anonyme Austausch von Suizidphantasien im Internet kann deshalb eine emotionale Entlastung sein." Inwieweit die Teilnahme an einer Onlinediskussion dazu führen kann, dass sich der Betroffene irgendwann auch professioneller Hilfe zuwendet, ist allerdings noch nicht untersucht.

Kompetenznetz "Depression" bietet ein Internetforum
Eines dieser Angebote ist das Kompetenznetz "Depression, Suizidalität", ein bundesweites Forschungsprojekt, zu dem sich unter anderem führende Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken, Bezirks- und Landeskrankenhäuser, niedergelassene Ärzte und Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt bietet im Internet neben breiter Information ein Diskussionsforum für Betroffene an, das von professioneller Seite betreut wird. Prof. Ulrich Hegerl, Sprecher des Kompetenznetzes "Depression, Suizidalität" und Oberarzt der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärte: "Auf diese Weise ist es möglich, Betroffenen eine Kommunikationsplattform zur Verfügung zu stellen. Durch die fachärztliche Betreuung soll erreicht werden, dass akut Suizidgefährdete von der Notwendigkeit eines Arztbesuches überzeugt werden. In Notfällen wird über die Polizei versucht, akut gefährdeten Personen Hilfe zu bringen."

Risikogruppen kommen aus allen Altersschichten
Zu den Gruppen mit einem erhöhten Risiko für eine Suizidgefährdung zählen Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Alkoholsucht und Schizophrenie, außerdem alte Menschen, die an Vereinsamung oder chronischen Krankheiten leiden. Auch junge Erwachsene und Jugendliche, die Drogen-, Familien- und Ausbildungsprobleme haben oder sich in Entwicklungs- und Beziehungskrisen befinden, sind suizidgefährdet. Menschen, die sich mit einschneidenden Veränderungen wie Partnerverlust und Arbeitslosigkeit konfrontiert sehen, können ebenso betroffen sein wie Menschen, deren Lebensqualität durch chronische Schmerzen beeinträchtigt wird.Prof. Manfred Wolfersdorf, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, stellte fest: "Uns ist deutlich geworden, dass Suizid meist nicht Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit ist, wie es der Begriff Freitod suggeriert. Statt dessen fühlt sich der Suizidgefährdete durch objektive oder subjektiv erlebte Notlagen sowie psychische oder körperliche Erkrankungen eingeengt."

Aufklärungskampagne hat Suizidrate gesenkt
Ein Hauptgrund für die jährlich über 11.000 Suizide in Deutschland sind unbehandelte Depressionen. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist nicht Diabetes oder Herzinfarkt, sondern Depression die Volkskrankheit Nr. 1 in den Industrieländern. Doch obwohl gute therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, erhalten nur zehn Prozent aller Betroffenen in Deutschland eine Therapie, die dem aktuellen Forschungsstand entspricht. "Eine verbesserte Versorgung depressiver Patienten ist ein wichtiger Beitrag zur Suizidprävention", so Prof. Hegerl. So gelang es dem Kompetenznetz "Depression, Suizidalität" durch eine Informations- und Aufklärungskampagne im Rahmen des "Nürnberger Bündnisses gegen Depression'', die Rate an Suiziden und Suizidversuchen in Nürnberg deutlich zu senken.

Suizidprävention durch Depressionsstationen
Ein wirksamer Ansatz für eine bessere Versorgung sind laut Prof. Wolfersdorf so genannte Depressionsstationen. Hier können schwer depressive Patienten eine familiäre Gemeinschaft bilden und gezielter betreut werden als auf gemischten Stationen. In den letzten Jahren hat die Gründung von Depressionsstationen im Zuge der Patientenorientierung und Qualitätssicherung sowie der ökonomischen Anforderungen an psychiatrische Fachkrankenhäuser stark zugenommen. Da die intensive therapeutische Beziehung neben der medikamentösen Behandlung und der Schaffung eines beschützenden Rahmens ein wesentlicher Bestandteil der stationären Suizidprävention ist, ist ein zahlenmäßig ausreichendes und gut qualifiziertes Personal unverzichtbar. "Werden die in der Psychiatrie-Personalverordnung aufgestellten Mindestnormen aufgegeben, könnte dies meines Erachtens wieder zu mehr Patientensuiziden führen", befürchtet Prof. Wolfersdorf.

Weiterführende Informationen:
http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/3408/
http://www.kompetenznetz-depression.de
http://www.buendnis-depression.de
http://www.dgppn.de

Quelle: Lichtblick-newsletter.de vom 20.12.2002

Artikel