Kinder / Jugendliche

Zappelphilipp und Traumsuse - Schlecht erzogen oder einfach nur anders?

Ärzte diagnostizieren oft eine Krankheit - von ddp-Korrespondentin Iris Hansch

Berlin (ddp). Paul zerrt an den Nerven von Eltern und Lehrern. Ständig stößt der Junge etwas um, hört nie zu, macht nicht das, was man ihm sagt. Der Sechsjährige ist einfach nur laut und scheint "Hummeln im Hintern" zu haben. Im Volksmund heißen solche Kinder "Zappelphilipp". Das Vorurteil: Sie sind schlecht erzogen, widerborstig und aggressiv.

Mediziner nennen sie hyperaktiv, aufmerksamkeits- und verhaltensgestört. Bei zwei bis sechs Prozent aller Kinder im Schulalter in Deutschland wird eine so genannte Aufmerksamkeitsdezifit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Das sind immerhin bis zu 600 000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 18 Jahren.

ADHS gilt heute als die häufigste psychiatrische Störung bei Kindern und Jugendlichen. Dabei handele es sich nicht um eine Modediagnose, sondern "um eine Erkrankung mit weit reichenden Folgen für die Kinder und ihr gesamtes soziales Umfeld", erläutert Michael Huss von der Berliner Charite. Ursache sei unter anderem eine "neurobiologische Funktionsstörung", eine Reizüberflutung im Gehirn.

Nun hat aber nicht jede kleine Nervensäge gleich ADHS. Davon sprechen Mediziner erst, wenn ein Kind über mehr als sechs Monate Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität in verschiedenen Lebensbereichen zeigt, wie Huss betont. Charakteristisch für das Krankheitsbild ist nach den Worten des Kinder- und Jugendpsychiaters, "dass die Verhaltensweisen nicht dem altersgemäßen Entwicklungsstand entsprechen".

Die Krankheit hat viele Gesichter, weiß Huss aus der täglichen Praxis. Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen auch nicht alle gleichzeitig auftreten. Jungen leiden wesentlich häufiger darunter als Mädchen. Während Jungen eher hyperaktiv sind, haben die "Traumsusen" eher mit den Problemen der Unaufmerksamkeit zu kämpfen.

Bei einigen Kindern lassen die für ADHS typischen Symptome in der Pubertät deutlich nach. "Bei mehr als der Hälfte der Fälle bleiben die Verhaltensauffälligkeiten jedoch ein Leben lang", sagt Experte Huss.

Wird die Erkrankung nicht behandelt, hat das oft weit reichende Folgen. Für die meisten betroffenen Kinder wird die Schulzeit zur Leidenszeit. Sie können sich nicht konzentrieren, stören ständig. Flüchtigkeitsfehler sorgen für schlechte Noten. Obwohl die Kinder normal intelligent sind, ist ein schulischer Abstieg oft vorprogrammiert. Als ewiger Störenfried stößt das Kind überall auf Ablehnung. Das führt nicht selten in die soziale Isolation.

Bei ADHS handele es sich um eine sehr komplexe Erkrankung, betont Huss. Wie stark die Symptome tatsächlich ausgeprägt sind, können neben erblichen Faktoren auch Umwelteinflüsse entscheiden. "Wenn den Kindern zu wenige Grenzen gesetzt sind, die Bezugspersonen häufig wechseln oder die Tagesabläufe unstrukturiert sind, verstärkt dies die Verhaltensauffälligkeiten", sagt der Mediziner. Deshalb sei es wichtig, dass vor jeder Therapieentscheidung eine gründliche Diagnose eines erfahrenen Kinderarztes oder Kinder- und Jugendpsychiaters steht.

Idealerweise wird das gesamte Umfeld in die Diagnose mit einbezogen. In Gesprächen mit Eltern wird geklärt, ob es bereits solche Krankheitsfälle in der Familie gab und wie sich das Lebensumfeld des Kindes gestaltet. Nach Möglichkeit sollten auch Erzieher und Lehrer um eine Darstellung der Verhaltensauffälligkeiten gebeten werden.

Geheilt werden kann die Krankheit derzeit nicht. "Dennoch ist sie gut in den Griff zu bekommen, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen", sagt Huss. Sind die Symptome nur gering ausgeprägt, kann bereits eine Verhaltenstherapie helfen. Dabei wird zusammen mit Kind und Eltern versucht, unerwünschte Verhaltensweisen abzubauen und gezielt durch neu erlernte zu ersetzen.

Funktioniert das allein nicht, werden zusätzlich Medikamente verabreicht. Mit den so genannten Psychostimulanzien gelingt es heute wissenschaftlichen Studien zufolge in den meisten Fällen, die Symptome wirkungsvoll zu reduzieren.

--> Buchtipps und Links zum Umgang mit hyperaktiven Kindern

E. Aust-Claus, P-M. Hammer: Das ADS-Buch: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Neue Konzentrationshilfen für Zappelphilippe und Träumer. Oberstebrink Verlag GmbH, ISBN 3-9804493-6-X, 19,80 Euro

M. Döpfner, J. Frölich, G. Lehmkuhl: Hyperkinetische Störungen, Leitfaden
Kinder- und Jugendpsychotherapie. Hogrefe Verlag, ISBN 3-8017-1354-7, 22,95 Euro

Döpfner, Schürmann, Lehmkuhl: Wackelpeter und Trotzkopf, Hilfen bei hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten, Beltz, Psychologie Verlags Union, 2000 ISBN 3-621-27481-2, 19,90 Euro

C. Neuhaus: Das hyperaktive Kind und seine Probleme, Ravensburger Verlag, ISBN 3-473-42747-0, 12,90 Euro

K. Skrodzki/ K. Mertens: Hyperaktivität: Aufmerksamkeitsstörung oder Kreativitätszeichen, Borgmann, Verlag modernes Lernen, ISBN 3-86145-190-5, 19,50 Euro

Arbeitskreis Überaktives Kind
Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V.
Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V.

Quelle: Lichtblick-newsletter.de vom 22.09.2003

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